Sprachflüchtlinge in der Welt der Gehörlosen – Wenn die Gebärdensprache zum Grund für Migration wird

In unserer globalisierten Welt ist es ganz normal, dass Leute wegen der Arbeit, der Ausbildung, Krieg oder des Klimawandels umziehen. Aber es gibt immer mehr Leute, die aus einem Grund migrieren, den viele für selbstverständlich halten – das Recht auf Sprache. In der tauben Gemeinschaft tauchen immer mehr Geschichten von sogenannten „Sprachflüchtlingen“ auf: Eltern, die ihr Heimatland verlassen, damit ihre tauben Kinder Zugang zu Gebärdensprache, taubengerechter Bildung und einer sprachlich barrierefreien Umgebung haben.

„Wir sind nicht vor dem Krieg geflohen – wir sind vor der Sprachunterdrückung geflohen“

In vielen Ländern gibt es keine Schulen, in denen Gebärdensprache als Unterrichtssprache verwendet wird. Hörtechnologien wie Cochlea-Implantate (CI) und Sprachtherapie werden zwar angeboten, aber ohne Unterstützung für den Kontakt mit visueller Sprache. In einigen Ländern fehlt es an einem gut ausgebauten System für gehörlose Menschen, wie zum Beispiel Zugang zu Gebärdensprache, Gebärdensprache-Unterricht und Gehörlosenverbänden. Das führt oft zu Sprachentzug – einem Zustand, in dem ein Kind keine vollständige Sprache entwickelt, was schwerwiegende Folgen für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung haben kann (Humphries et al., 2012).

Für manche Familien wird die Situation unhaltbar. Sie suchen nach anderen Ländern, in denen ihre Kinder bessere Chancen haben, eine sprachliche Grundlage aufzubauen. Länder wie Schweden, Kanada und die USA bieten in unterschiedlichem Umfang Gehörlosenschulen, Gebärdensprachunterstützung und eine anerkannte Gehörlosenkultur.
Für diese Familien ist die Migration eine Investition in die Zukunft ihrer Kinder – aber auch ein Abschied von ihrer Heimat, ihrer Sprache und ihren sozialen Netzwerken. Schweden hat sich in Europa einen guten Ruf für seine Unterstützung gehörloser Menschen erworben, obwohl der Zugang zu gebärdensprachbasierter Bildung nicht im ganzen Land einheitlich ist.

Es gibt staatliche Gehörlosenschulen, ausgebildete Gebärdensprachdolmetscherinnen und gesetzlich verankerte Sprachrechte, aber es gibt auch noch Herausforderungen – vor allem für Neuankömmlinge.

Für Sprachflüchtlinge bietet das Gebärdensprachumfeld in Schweden eine neue Chance. Aber auch eine neue Herausforderung: sich im Migrationssystem zurechtzufinden, Rechte zu verstehen und wieder eine Gemeinschaft aufzubauen.

„Wir sind umgezogen, um unserem Kind eine Sprache zu geben“

Als Fatema Afroza und ihr Mann Reza 2017 Bangladesch verließen, war das nicht wegen Krieg oder einer Wirtschaftskrise – sondern weil ihre Tochter, die taub ist, in einer Gesellschaft ohne Sprache keine Zukunft hatte.

„In Bangladesch gab es keine Schulen für taube Kinder und keinen Zugang zu Gebärdensprache. Kinder wie unsere Tochter mussten still sein, unsichtbar bleiben und zu Hause bleiben“, sagt Fatema.

Ihre Tochter Raiya kam im Mai 2008 unter dramatischen Umständen zu früh zur Welt. Sie verbrachte viel Zeit im Inkubator und hatte nach einer Cochlea-Implantation schwere Komplikationen, die mehrere Folgeoperationen nötig machten. Nach monatelanger Behandlung in Bangladesch und Indien wurde klar, dass das Land die medizinische und schulische Versorgung, die die Familie brauchte, nicht bieten konnte.

„Wir haben nach einer Schule gesucht, die ein gehörloses Kind aufnehmen könnte. Aber es gab nichts. Keine Unterrichtung, keine Gebärdensprache, keine soziale Integration. Wir hatten das Gefühl zu ersticken – dass sie ihr Leben verlor und wir unseren Traum für ihr Leben verloren.“

Da war die Entscheidung klar: alles hinter sich lassen – Jobs, Zuhause, Familie, Sicherheit –, um ihrem Kind etwas so Grundlegendes wie Sprache zu ermöglichen.

„Wir wollten, dass sie sagen kann: ‚Ich habe Hunger‘ oder ‚Ich möchte spielen‘. Wir wollten, dass sie Freunde hat, zur Schule geht und werden kann, was immer sie will. Also sind wir nach Schweden gezogen.“

In Schweden stießen sie auf ein völlig anderes System. Raiya kam in eine Schule mit Personal, das die Gebärdensprache beherrschte, und die Familie erhielt Unterstützung beim Erlernen der schwedischen Gebärdensprache.

„Wir hatten zu Hause in Dhaka angefangen, uns online amerikanische Gebärdensprache beizubringen, aber schnell gemerkt, dass die schwedische Gebärdensprache eine ganz andere Sprache ist. Anfangs waren wir besorgt, aber die Umstellung verlief besser als erwartet. Heute verwenden wir als Familie die schwedische Gebärdensprache, und Raiya hat eine Sprache, die sie ihre eigene nennen kann.“

Fatema beschreibt Schweden als ein Land, in dem man echt Chancen bekommt, auch wenn der Weg nicht immer einfach ist.

Trotzdem trauern sie um ihr Leben in Bangladesch.

„Wir vermissen unsere Familie jeden Tag. Aber zu bleiben hätte bedeutet, die Zukunft unserer Tochter zu zerstören. Deshalb bezeichnen wir uns als Sprachflüchtlinge. Wir sind nicht vor der Armut geflohen – wir sind vor der Stille geflohen.“

„Wir fühlen uns wie Sprachflüchtlinge“

Als Steffen Røntved Egeberg und seine Familie – eine dänische Familie, in der alle Eltern und Kinder Gebärdensprache nutzen – ihr erstes Kind bekamen, begann ein Kampf, der sie schließlich dazu brachte, Dänemark zu verlassen und nach Schweden zu ziehen.

„Schon bevor unsere erste Tochter geboren wurde, haben wir darüber gesprochen, dass sie vielleicht taub sein könnte, aber wir dachten nicht, dass das passieren würde. Als wir später erfuhren, dass sie taub ist, haben wir uns nach einer Tagesstätte anstelle einer Vorschule umgesehen. Die kommunale Vorschule kam nicht infrage – wir fühlten uns dort nicht willkommen, weil unser Kind taub und nicht implantiert ist.“

„Wir waren schockiert, als der Vertreter der Gemeinde uns besuchte und mit „schwerem Herzen“, sagte, dass wir uns um ihr Wohlergehen sorgen müssten, wenn wir ihr kein CI geben würden. Ich habe selbst ein CI und weiß, was das bedeutet, aber diese Bemerkung war respektlos. Nach diesem Treffen fühlten wir uns schrecklich und begannen, nach anderen Möglichkeiten zu suchen.“ Ihre Suche führte sie nach Schweden.

Außerdem fielen ihnen erhebliche Unterschiede im Gesundheitswesen auf.

„In Dänemark haben sich die Ärzte nur auf das CI und die Sprachentwicklung konzentriert und nie etwas über Gebärdensprache gesagt. In Schweden sind wir auf eine ganz andere Offenheit gestoßen – man hat uns zugehört, uns beide Seiten aufgezeigt und uns unsere eigene Entscheidung überlassen. Das war eine große Erleichterung.“

Als ihre zweite Tochter in Schweden geboren wurde, trafen sie auf ein Gesundheitssystem, das ihre Entscheidungen von Anfang an respektierte.

„Wir fühlten uns nicht unter Druck gesetzt, uns für ein CI zu entscheiden. Wir wurden informiert, aber die Entscheidung lag immer bei uns. Unsere Tochter wurde in ein System hineingeboren, in dem unsere Identität und unsere Sprache respektiert wurden.“

Nach ein paar Jahren in Malmö zog die Familie nach Örebro, wo es mehr Kinder gab, die Gebärdensprache benutzten, ein stärkeres Netzwerk für Gehörlose und ein komplettes Bildungssystem von der Vorschule bis zur Hochschule.

„Wir wollten den besten Ort in Schweden finden, um Wurzeln zu schlagen, und Örebro bot uns genau das, was wir brauchten. Wir konnten einfach nicht nein sagen.“

Aber Steffen macht sich immer noch Sorgen um die Entwicklungen in Dänemark.

„Ich hoffe, Dänemark wacht auf. Wir können das nicht alleine schaffen – Gebärdensprache muss unterstützt und respektiert werden, egal welche Technologie es gibt. Wir sind nicht freiwillig weggezogen – wir mussten. Deshalb sehen wir uns als Sprachflüchtlinge.“

Schweden – ein Zufluchtsort mit Schwächen

Selbst in Schweden ist die Unterstützung sehr unterschiedlich, je nachdem, wo man lebt. Nicht nur Familien aus anderen Ländern sind gezwungen, zu migrieren. Auch innerhalb Schwedens erleben gehörlose Eltern die Marginalisierung der Gebärdensprache im Umgang mit dem Gesundheitswesen und den Behörden. Für Nike Nordin war früh klar, dass sie trotz ihrer Gehörlosigkeit und ihrer Muttersprache Gebärdensprache in ihrer eigenen Sprache wie eine Fremde behandelt wurde.

„Ich bin wegen der Sprache meines Sohnes umgezogen – wir hatten keine andere Wahl“

Als Nike Nordin Mutter wurde, stand sie sofort vor einer wichtigen Entscheidung. Ihr Sohn wurde taub geboren, genau wie sie und einige andere in ihrer Familie. Sie kannte die Situation in Vänersborg und der Region – und wusste, dass das nicht reichen würde.

Nike, die mit Gebärdensprache aufgewachsen ist, spürte sofort, dass etwas fehlte. Obwohl sie immer wieder ihren Hintergrund erklärte, lag der Fokus weiterhin auf Hörimplantaten.

„Ich musste acht Mal zur CI-Klinik fahren und jedes Mal Nein sagen. Ich wusste, was es bedeutet, taub zu sein, und ich wollte, dass mein Sohn mit einer starken Identität und einer soliden sprachlichen Grundlage aufwächst. Es machte mir Angst, dass niemand andere Optionen wie Gebärdensprache, Hilfsmittel oder taube Vorbilder erwähnte.“

Schließlich wurde klar, dass Vänersborg nicht das Umfeld bieten konnte, das ihr Sohn brauchte.

„Es gab nur zwei taube Jungen in seinem Alter, die 2013 geboren waren. Ich begann sofort, über seine Zukunft nachzudenken. Wo würde er eine Gemeinschaft finden? Wie würde seine Freizeit aussehen? Gab es eine Gehörlosenkultur oder -identität, mit der er sich identifizieren konnte? Die Antwort war nein – und da wusste ich, dass ich was tun musste.“

Nike kündigte ihren Job, ließ ihr sicheres Leben hinter sich und beschloss, nach Örebro zu ziehen – eine Stadt mit einem starken Gehörlosennetzwerk, Gebärdensprache im Alltag und Zugang zu Bildung von der Vorschule bis zur Hochschule.

„Ich war alleinerziehende Mutter, und es war meine Entscheidung. Es hat einige Zeit gedauert, weil ich mir sicher sein wollte, aber schließlich sind wir umgezogen, als mein Sohn 1,5 Jahre alt war. Es war hart – eine neue Stadt, kein Job, keine Freunde. Aber ich dachte: ‚Na ja, es wird schon klappen. Es ist für meinen Sohn.‘“

Der Abschied von Vänersborg war hart. Sie hatte dort Freunde, einen Job und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Aber nichts davon war wichtiger als die Zukunft ihres Sohnes.

„Heute sage ich einfach: WOW. Ich bin so froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Mein Sohn blüht in Örebro auf. Er ist kontaktfreudig, hat eine starke Identität als Gehörloser und ist von anderen Kindern umgeben, die Gebärdensprache verwenden. Ich sehe, wie sein Selbstwertgefühl und sein Selbstvertrauen jeden Tag wachsen.“

Nike erinnert sich besonders an einen Moment aus der jüngsten Vergangenheit.

„Am 1. April habe ich gescherzt und gesagt, dass wir vielleicht zurück nach Vänersborg ziehen müssen. Er war am Boden zerstört und schrie: ‚NEIN! Ich will nicht aus Örebro weg, ich habe hier alles!‘ Das war eine so starke und emotionale Bestätigung dafür, dass wir das Richtige getan haben.“

Sie sieht sich als Teil einer größeren Bewegung – einer Familie, einer Gemeinschaft, die für sprachliche und kulturelle Gleichberechtigung kämpft.

„Ja, wir sehen uns als Sprachflüchtlinge. Ich bin nicht umgezogen, weil ich wollte, sondern weil ich musste. Für meinen Sohn. Für sein Recht auf seine Sprache – und auf ein Leben, in dem er sich selbst entfalten kann.“

Fazit: Wenn das Recht auf Sprache zum Kampf wird

Die Geschichten dieser Familien zeigen, dass Sprachmigration keine Frage der Wahl ist, sondern der Notwendigkeit. Wenn es keine funktionierenden Gebärdensprachumgebungen gibt, ist ein Umzug der einzige Weg, um das Recht eines Kindes auf Sprache zu gewährleisten. Das wirft wichtige Fragen auf: Warum wird der Sprachentwicklung taubstummer Kinder nicht die gleiche Priorität eingeräumt wie der hörender Kinder? Warum wird Gebärdensprache immer noch als Alternative und nicht als selbstverständlich angesehen?

Wenn Kinder taub geboren werden, werden sie nicht ohne Sprache geboren. Aber die Gesellschaft kann ihnen diese Sprache entweder nehmen – oder ihnen geben. Und diese Entscheidung sollte niemals durch Migration erzwungen werden müssen.

Diese Geschichten zeigen, dass es bei Sprachflucht nicht um Freiheit geht – es geht ums Überleben. Es geht um Kinder, denen sonst ihre Muttersprache, ihre Identität und ihre Zukunft genommen werden. Und um Eltern, die alles aufgeben müssen, damit ihre Kinder eine Chance auf Sprache haben.

Es ist ein Appell an Politiker, Entscheidungsträger und Gesundheitssysteme: Warum wird die Gebärdensprache bei so vielen Entscheidungen nicht berücksichtigt? Warum wird CI oft als einzige Lösung angesehen? Und warum wird das Recht taube Kinder auf ihre Sprache in der Praxis so wenig beachtet?

„Taube Kinder sollten nicht versteckt werden. Sie sollten gehört werden – auf ihre eigene Art“, sagt Fatema.

Es ist Zeit zu erkennen, dass das Recht auf Sprache nicht garantiert ist – nicht einmal in Schweden. Und dass sprachliche Migration nicht nur eine Frage der Wahl ist, sondern eine Frage der Lebensbedingungen.

Eine politische Verantwortung

Alle Interviewten teilen ein Gefühl: Migration war keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit. Etwas, das hätte vermieden werden können – wenn die Gesellschaft einfach das Recht ihrer Kinder auf Sprache anerkannt hätte. Sie lehnen nicht die Technologie ab – sondern Zwang, Unsichtbarkeit und den Mangel an Optionen.

„Politiker müssen verstehen, dass Gebärdensprache kein Zusatz ist. Sie ist eine Sprache, eine Identität, ein Leben“, sagt Nike Nordin.

Mona Riis, Teckenbro
Jorn Rijckaert, Visual Box
Benedikt Sequeira Gerardo, manua