Seit beinahe einem halben Jahrhundert werden Cochlea-Implantate eingesetzt, Seit dem ersten Mehrkanalimplantat in Wien 1977 klettert die Zahl der Implantierten stetig auf die erste Million zu. Sechzig Jahre Forschung stehen vor einem neuen Durchbruch: mittels Gentherapie soll Taubheit angeblich “geheilt” werden, doch wohlgemerkt nur genetisch bedingte Taubheit und selbst davon nur ein bestimmter Teil, und dieser wird auch nur unter bestimmten Bedingungen ein sogenanntes “normales” Gehör erlangen mit Sprachverständnis und -entwicklung. Wir haben die Artikel rund um die ersten erfolgreichen Experimente im Jahr 2024 zusammengefasst und beleuchten das Thema kritisch aus gehörloser Perspektive.
Für Gehörlose ist wie auch beim Cochlea-Implantat die Sorge groß, dass der Gemeinschaft Mitglieder geraubt werden könnten. Jedes implantierte Kind ist potentiell eins, das keine Gebärdensprache lernt, oder das statt taub schwerhörig ist und damit vielleicht doch ohne Hilfsmittel an einer hörenden Schule landet. Es ist eine berechtigte Angst, die schwer zu messen ist, da der Faktor Gebärdensprache in den Statistiken nicht erfasst wird – sondern nur die Behinderung. In Deutschland etwa müssten nach den WHO-Zahlen etwa 80.000 Menschen gehörlos sein, erfasst sind aber nur etwa 50.000, nämlich diejenigen, die einen Behindertenausweis mit dem Merkzeichen „Gehörlos“ haben. Wieviele davon kulturell taub sind, also Gebärdensprache als Hauptkommunikationsform benutzen, weiß man nicht. Auch bleibt das Merkzeichen „Gehörlos“ oft erhalten, selbst wenn mit Hörhilfen oder -prothesen ein nahezu normschönes Hören und akustische Teilhabe möglich sind. Umgekehrt ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Hersteller zuverlässige Statistiken abgeben oder gar nennen, wenn eine Implantation erfolglos verlaufen ist. Gezählt werden auch hier vor allem die „verbauten“ Geräte. Selbst wenn die Hörgeräte also mit leerem Akku in einer Schublade verstauben, sind sie für die Statistik ein Erfolg.
Was bleibt, sind subjektive Wahrheiten, persönliche Eindrücke. Dazu ist es ein Thema, das für beide Seiten der Hörkurve sehr emotional ist oder sein kann.
Wenn sich jetzt ankündigt, dass Gentherapie Taubheit heilen könnte, mischt sich Angst mit Hoffnung. Angst der Community, dass einer Impfung gleich die Taubheit überall weggespritzt werden könnte, Hoffnung bei Hörenden, dass Taubheit von Angehörigen und Kindern für sie keine Belastung mehr ist, oder dass sie selber eines Tages Heilung finden, selbst wenn es mit der aktuellen neuen Methode nicht geht.
Denn wie so oft handelt es sich bei genauerer Betrachtung um eine Lösung, die nur für eine kleine Gruppe von Hörbehinderten überhaupt in Frage kommt.
Das CRISPR-Verfahren, auch “Genschere” genannt, ist eine Möglichkeit, DNS-Stränge gezielt aufzutrennen und neue Erbinformationen einzufügen, daher auch die Bezeichnung als Schere – die DNS wird getrennt – und zwar der Länge nach. Das funktioniert über bestimmte Proteine. Dann versucht die Zelle, in der sich die DNS befindet, diese aufgetrennten Stränge zu reparieren. Als Material für diese Reparatur gibt es zuvor eingeschleuste, sogenannte “therapeutische” DNS. Das Ergebnis ist speziell angepasste DNS.
Von gut 200 Gen-Mutationen, die zur Taubheit führen, ist der “Otoferlin-Defekt” derjenige, der für den CRISPR-Testlauf gewählt wurde. Am Kinderkrankenhaus in Philadelphia, USA, wurde im Januar 2024 ein Erfolg gemeldet, der aber nur technisch gesehen auch ein Erfolg war. Ein elfjähriger Junge konnte wieder hören. Beim “Otoferlin-Defekt” sorgt die Mutation dafür, dass ein bestimmter Botenstoff nicht produziert wird. Grob vereinfacht: So wie Serotonin der Botenstoff für Glücksgefühle ist, ist Otoferlin der relevante Botenstoff fürs Hören. Wenn man den Zellen mit der Gentherapie sozusagen wieder beibringt, diesen Botenstoff zu produzieren, funktioniert auch das Hören wieder, zumindest wenn, wie in diesem Fall, alle weiteren Bestandteile des Gehörs wie beispielsweise Ohren und Schnecke intakt sind.
Eine nur begrenzt sinnvolle Therapie, aus zweierlei Gründen. Einmal weil der Einsatzbereich so beschränkt ist, und einmal aus etwas komplizierteren Gründen.
Dass der Einsatzbereich beschränkt ist, liegt ganz einfach an den Zahlen. Mit dem “Otoferlin-Defekt” kommen gut zehn bis 30 Kinder jährlich in Deutschland auf die Welt. Bei gut 700.000 Kindern, die jährlich in Deutschland geboren werden, ist das ein Anteil von 0,004%, verschwindend gering. Zum Vergleich: schwerhörig oder taub geborene Kinder gibt es pro Jahr um die 700-2.100, das sind 0,1-0,3%.
Zurück zur genetisch bedingten Taubheit: Neben der Otoferlin-Taubheit gibt es noch 200 andere Formen von Taubheit, die genetisch bedingt sind. Diese kann man aber mit der Otoferlin-Methode, selbst wenn man die richtigen Gene verändert, nicht mehr beeinflussen, denn wenn etwa ein Gen das Innenohr verändert hat, dann ist diese Veränderung bereits eingetreten, wenn ein Kind auf die Welt kommt und die Taubheit diagnostiziert wird. Die Genschere ist also eine sehr viel geringere Bedrohung für Taubheit als Cochlea Implantate, selbst wenn alle genetisch bedingten Vorkommen von Taubheit so vernichtet werden könnten.
Der 11jährige Junge, an dem mit der Gentherapie hören kann, hat aber das Zeitfenster verpasst, in dem er eine Sprache – ob Laut- oder Gebärdensprache – lernen hätte können. So hört er zwar, kann aber mit den Signalen nichts anfangen, weil sein Gehirn in der entsprechenden Zeit nicht stimuliert wurde. Die Apotheken-Rundschau befragte dazu Dr. Kristin Rak von der Uniklinik Würzburg, die einerseits bestätigte, dass die Therapie auch nach einer Implantation funktionieren könnte, aber gleichzeitig auch empfahl, die Areale des Gehirns zu fördern, die für Sprache zuständig ist. Rak ist zwar entsprechend ihrer medizinischen Position schnell beim Cochlea-Implantat, aber ihre Aussage trifft auch für das Lernen der Gebärdensprache und den bilingualen Ansatz zu: “Wir raten Eltern dazu, […] nicht auf die Zulassung einer Gentherapie zu warten, damit sich die Zentren Gehirn, die für Hören und Sprache zuständig sind, frühzeitig entwickeln können.”
Das wirft die Frage auf: Warum also diese Methode an einem Jungen testen lassen, der sprachlich nicht gefördert wurde? Kann es sein, dass man auf Nummer sicher testen wollte, ob die Therapie auch die Sprachfähigkeit beeinflusst? Von der Forschungsethik her wäre es ein sehr fragwürdiges Vorgehen.
Unterm Strich bleibt das Risiko der Fehleinschätzung: Gehörlosigkeit ist heilbar, wir müssen uns nicht an die Arbeit machen, das Sprachzentrum irgendwie zu erhalten, also beim Kind irgendeine Sprache zu fördern, ob gebärdet oder gesprochen. Dadurch bleibt dann die sprachliche Entwicklung des Kindes auf der Strecke.
Tatsächlich befeuert die Gentherapie auch eine Kombination mit Cochlea-Implantaten: So wollen Forschende in Göttingen die Erkenntnisse nutzen, um die Entwicklung von optischen Cochlea Implantaten voranzutreiben, eine Technologie, die seit 2008 dort entwickelt wird und angeblich ein besseres Hören als bisherige elektrische Implantate erlauben soll. Die Gentherapie soll hier nicht etwa Mutationen ausbessern, sondern vielmehr dafür sorgen, dass lichtempfindliche Eiweiße in den Ohren entstehen, die dann wiederum mit den optischen Implantaten zusammen ein besseres Hören ermöglichen.
Man will sich nicht ausmalen, wie viel Geld in diese Forschung gesteckt wird im Vergleich zur nicht praktisch existenten Förderung der Gebärdensprache und Kultur Gehörloser – im praktischen Sinne.
Autor: Wille Felix Zante (manua)