Europa, das Mekka der tauben Politik

Gefühlt mischen in fast allen europäischen Ländern Taube Menschen in Parlamenten in der Politik mit – doch wo genau? Was fällt dabei auf? Woran könnte es liegen, dass dem so ist? Wir haben für diesen Artikel ausführlich recherchiert und stießen auf einige auffallende Dinge. Doch steigen wir zunächst einmal mit der Sowjetunion ein, in der es zwei ungewöhnliche, aber nicht ganz in unsere Recherche passende Beispiele gab, die wir für den Einstieg nehmen wollen.

Beide sind sie spätertaubt, also nicht kulturell taub und höchstwahrscheinlich auch keine Gebärdensprachnutzer – aber trotzdem interessant.

Nur Nestor Lakoba, das Staatsoberhaupt von Abchasien, war zu seiner Amtszeit bereits taub, und wurde von Josef Stalin scherzhaft “der Taube” genannt. Andrey Andreyevich Andreyev wiederum war an der als “Großer Terror” bekannten Schreckensherrschaft Stalins in den 30er Jahren beteiligt und ertaubte sehr spät – seine Taubheit gab er auch als Grund an, warum er sich aus der politischen Arbeit zurückziehen wollte. Er soll damit der einzige Funktionär des Stalin-Regimes gewesen sein, der lebend aus dem Amt schied. Naturgemäß gab es hier keinen Bezug zur Gebärdensprache. 

Danach gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur zwei taube Männer, die als Politiker Karriere machten, wovon einer mit 45 Jahren sehr spät ertaubt war, sich aber trotzdem für Behindertenrechte und gegen häusliche Gewalt einsetzte: Jack Ashley, Baron Ashley of Stoke in Großbritannien. Gary Malkowski, der in Kanada der erste Taube Politiker war, war auch der erste überhaupt, der in Gebärdensprache zu einem Parlament sprach. Er war von 1990 bis 1995 im Amt. 

1999 wurde Wilma Newhoudt-Druchen in Südafrika die erste Taube Parlamentarierin, die bis 2024 aktiv blieb. Sie war damit die erste Taube Frau, die in ein Parlament gewählt wurde. Ausgebildet wurde sie in Gallaudet und war im Präsidium des WFD. Ihre Partei war die Anti-Apartheid-Partei ANC, der auch Nelson Mandela angehörte.

Ab den Nuller Jahren war die Politik auch vor allem weiblich geprägt: Sigurlín Margrét war 2003 nur kurz, aber, wenn man Island zu Europa zählt, die erste europäische Taube Politikerin im Parlament. Auch danach war die Taube Politik sehr europäisch dominiert: Helga Stevens wurde 2004 ins belgische Parlament gewählt und zehn Jahre später ins Europäische Parlament, wo sie sogar Vizepräsidentin der Gruppe European Conservatives and Reformists (ECR) wurde und außerdem Vorsitzende der Behinderten-Gruppierung im Europäischen Parlament. Die ECR schlug sie sogar als Parlamentspräsidentin vor, hatte damit aber keinen Erfolg.  

Nachdem es im 20. Jahrhundert nur sehr wenige Taube Menschen in Parlamenten gab, sollte es nun Schlag auf Schlag gehen. In Griechenland kam 2007 von der sehr rechten Popular Orthodox Party Dimitra Arapoglou ins Parlament, hielt sich zwei Jahre, schied wieder aus. In Österreich auf der anderen Seite im linkskonservativen Spektrum der Grünen wurde Helene Jarmer zur Vorzeigepolitikerin, die auch im Vorsitz des österreichischen Gehörlosenbundes war. In Ungarn wiederum kommen zwei Politiker der eher rechten Fidesz an die Macht, der auch der (hörende) Viktor Orban angehört. Adam Kosa macht Geschichte als erster tauber Politiker im EU-Parlament, sein Parteikollege Gergely Tapolczal stimmt für eine homofeindliche Legislatur und tritt daraufhin nach Protesten der LGTBQ*-Communities in der Gehörlosengemeinschaft von seinem Amt im Präsidium der European Union of the Deaf zurück.

Auch Taube Politiker sind also nicht vor Skandalen gefeit, bekannt sind hier vor allem Männer. Auf regionaler Ebene ist Chris Haulmark im US-Bundesstaat Kansas 2018 aktiv, will in das dortige Landesparlament einziehen. Als drei Taube Frauen Vorwürfe der häuslichen Gewalt gegen ihn erheben, entziehen die Demokraten ihm die Unterstützung. Aus seinem Posten wird nichts. Auf Bundesebene gibt es in den USA nach 2000 übrigens keine Tauben Politiker*innen, wie auch in anderen Ländern des Kontinents. In Asien und Afrika – mit Ausnahme von Südafrika – ist es ähnlich. Eine Konzentration scheint auf dem europäischen Kontinent stattzufinden.

Warum in Europa so viele politisch aktive Gehörlose? Frage: Was hält sie anderswo von der politischen Beteiligung ab? Das wäre eine interessante Forschungsfrage, fest steht, dass es offenbar ein großes Ungleichgewicht ist. Vielleicht ermöglichen die starken Accessibility-Gestze in den USA eine stärkere Selbstverwirklichung abseits der Politik? Hierbei wird vor allem klar, wie wenig die regionalen und nationalen Unterschiede bekannt sind. 

Auch wenn die Nachrichten in vielen Fällen in fast jedem Land Dolmetscherinnen in Gebärdensprachen einblenden, ist die Frage, wie allgemein politische Bildung stattfindet, akustisch-schriftlich oder auch in Gebärdensprachen? Anzeichen lassen sich in regionalen Parlamenten finden. So gibt es Berichte aus Japan, wo mit Schriftdolmetschung gearbeitet wird. Hinderlich ist auch, dass die Presse, die über gehörlose Themen berichtet, nie einordnen kann, ob eine Person kulturell Taub ist oder nur medizinisch. Als auf kommunaler Ebene in Japan zwei Frauen den Sprung in ein kommunales Parlament schafften, wurde vor allem mit Spracherkennungssoftware gearbeitet, was zwei Dinge bedeuten kann: Entweder sind sie nur medizinisch gesehen taub oder aber die Sprachfrühförderung ist bei ihnen so gut gewesen, dass sie perfekt bilingual aufgewachsen sind. 

Zum Vergleich gibt es in einem anderen Berufsfeld, wo ebenfalls viel von Kommunikation abhängt,  sehr viel mehr Menschen aus Nordamerika: Beim Film und Fernsehen sind fast alle Tauben Menschen aus den USA. Gewiss sind die USA mit Hollywood ein wichtiges Filmland, aber trotzdem ist die unterschiedliche Gewichtung faszinierend. Könnte es sein, dass in den USA Gebärdensprache eher aus einer kulturellen Perspektive wertgeschätzt wird und in Europa mehr aus einer politischen Perspektive? 

Auch wenn in der Politik demokratisch entschieden wird, wer einen Posten bekommt, sind Beziehungen hier wichtig, genauso wie beim Film. Was in beiden Fällen hinderlich ist, sind die finanziellen Hürden: Oftmals sind Einstiegspositionen etwa in der Kommunalpolitik nicht bezahlt, ebenso das ehrenamtliche Engagement in der Partei. Als Martin Vahemäe-Zierold sich in Berlin in ein Kommunalparlament vorkämpfte, stand er vor der Schwierigkeit, dass die Verdolmetschung nicht finanziert wurde. Ebenso musste bei Julia Probst im Staat Bayern die Kostenübernahme für ihre Rolle als gewählte Stadträtin geklärt werden. In Deutschland sind Dolmetschleistungen oft noch an Erwerbstätigkeiten gekoppelt und zumindest in Arbeit und Ehrenamt sehr kompliziert geregelt. 

Dass es auch anders geht, zeigte der überraschende Einzug von Heike Heubach als Nachrückerin in den Bundestag. Im Wahlkampf war sie noch auf kreative Ideen angewiesen und zog mit einem iPad mit vorbereiteten Video um die Häuser, um Stimmen zu gewinnen. Als sie dann kurz vor den Neuwahlen in den Bundestag nachrückte, weil ein Parteikollege ausschied, bekam sie sofort Dolmetscherinnen gestellt. Bestimmt lag es hier zum Teil auch daran, dass der Bundestag sowieso über einen Sprachendienst verfügte und der Behindertenbeauftragte kürzlich einen Referenten für Gebärdensprache angestellt hatte. Im regulären Berufsleben hätte sie zum Einen ihre Dolmetscherinnen selber organisieren müssen und zum anderen erstmal einen Antrag stellen müssen. Das Bewilligungsprocedere dauert hier je nach Bundesland sechs Monate. Dementsprechend war die Überraschung groß, als sie von ihrem Arbeitgeber, dem Bundestag, bereits vorab kontaktiert wurde, welche Maßnahmen sie wünsche. 

Da sie dann beim neuen Wahlkampf bereits Mitglied des Bundestags war, konnte sie hierfür einfach ihre Dolmetscherinnen nutzen. So müsste es eigentlich auch schon auf dem Weg durch die Parteihierarchie sein, aber ist es eben nicht. Hier gilt also auch: Beweis dich erst – oder hab Glück – und du kriegst Dolmetscherinnen. 

Autor: Wille Felix Zante (manua)