Eine gemeinsame Produktion von Deaf Journalism Europe durch Charlotte Berthier (MediaPi) und Sam Verstraete (VGT nieuws)
Deaf Studies: Vom Studium der Gebärdensprache zur Erweiterung der globalen Perspektive der Taubengemeinschaft
Deaf Studies sind für taube Menschen das, was Black Studies für Schwarze Menschen und Gender Studies für queere Menschen sind: Fachgebiete, die die einzigartigen Erfahrungen, Kämpfe und Verdienste dieser Gemeinschaften untersuchen und gleichzeitig Anerkennung, Verständnis und Inklusion in der Gesellschaft fördern. Die Deaf Studies entstanden in den 1960er Jahren, um taube Menschen nicht als Personen mit einer Behinderung, sondern als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft zu betrachten. Während sich die Deaf Studies zunächst auf die linguistische Erforschung der Gebärdensprache konzentrierten, haben sie sich mittlerweile auf Disziplinen wie Bildungswissenschaften, Soziologie, Geschichte und viele andere Wissenschaftszweige ausgeweitet.
Einführung der MADS-Initiative in Europa: Die Lücke in der Deaf Studies-Forschung schließen
Mit einer wachsenden Zahl von Forscher*innen haben sich die Deaf Studies in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Im europäischen Hochschulwesen gibt es jedoch bisher kein Masterprogramm. Daraufhin entwickelte sich das MADS-Projekt, das darauf abzielt, ein anwendungsorientiertes Masterprogramm in Deaf Studies anzubieten. Dieses wird von Maartje de Meulder, einer leitenden Forscherin an der HU – Hogeschool Utrecht in den Niederlanden, Annelies Kusters, der ersten regulären Professorin für Deaf Studies an der Herriot-Watt-Universität, und fünf weiteren tauben Akademiker*innen geleitet. Das besondere Merkmal eines anwendungsorientierten Masterstudiengangs in Deaf Studies besteht darin, dass er sich auf die praktische Anwendung von Wissen und Fähigkeiten konzentriert, um reale Herausforderungen und Probleme in der Taubengemeinschaft anzugehen.
Obwohl die Forschung auf diesem Gebiet bereits weit fortgeschritten ist, würden die Ergebnisse der Deaf Studies in praktischen Bereichen wie der Lehre, der Interessenvertretung und dem öffentlichen Dienst Anwendung finden. MADS soll daher als Programm für angewandte Deaf Studies konzipiert werden, um den Studierenden Fähigkeiten für die berufliche Praxis zu vermitteln und sicherzustellen, dass die Forschung einen echten Beitrag zur Lösung der Herausforderungen leistet, denen sich die Taubengemeinschaft gegenüber sieht.
Das MADS-Projekt, Teil des Erasmus Mundus Design Measure-Programms (EMDM), stellt eine konzentrierte Anstrengung dar, erhebliche Lücken im Bereich der Deaf Studies zu schließen. In erster Linie zielt es darauf ab, das unzureichende Angebot an Masterstudiengängen in diesem Bereich zu erweitern. Darüber hinaus möchte MADS die Kluft zwischen akademischer Forschung und ihrer praktischen Anwendung innerhalb der Deaf Studies überbrücken.
Die Einbindung der Taubengemeinschaft: Perspektiven aus der MADS-Bedarfsanalyse
Über 15 Monate lang klärte das Projekt die Bedürfnisse potenzieller zukünftiger Bewerber*innen für den Studiengang, indem es zum Beispiel Frontrunners besuchte, das taube Äquivalent zur Hogwarts-Schule für Zauberer in der Welt von Harry Potter – ein Programm für junge taube Menschen aus der ganzen Welt, die sich in den Bereichen Führungskompetenz und Organisation sowie vielen anderen Themen weiterbilden möchten.
Die Bedarfsanalyse fand während einer Schnupperwoche im Dezember 2023 in Ål, Norwegen, statt. Trotz der Herausforderung, ein in Europa noch nie dagewesenes Programm zusammenzustellen, das dem multidisziplinären Charakter der Deaf Studies und den vielfältigen Anforderungen der Taubengemeinschaft gerecht wird, konnten während der Schnupperwoche wichtige Themen wie Gehörlosenpädagogik und Deaf Ecosystem angesprochen werden. Letzteres bezieht sich auf die wachsende Zahl von Unternehmen oder Dienstleistungen, die direkt von tauben Menschen betrieben werden, wie z. B. Dolmetschfirmen. Die Schnupperwoche begrüßte zahlreiche Teilnehmer*innen, die mehr über das Programm erfahren wollten. Darunter ein breites Spektrum an unterschiedlichen Profilen, von Doktorand*innen bis hin zu tauben Menschen, die bereits eine universitäre Ausbildung erhalten haben, diese aber noch weiter ausbauen wollen.
Mónica Rodríguez, eine der Teilnehmerinnen, arbeitet in einem Zentrum für den Erhalt der Gebärdensprache in Spanien, wo sie als Vermittlerin zwischen der Taubengemeinschaft und der Regierung tätig ist. Sie betonte, wie wichtig es ist, die Deaf Studies in ihre berufliche Weiterbildung einzubeziehen, um die spezifischen Herausforderungen, mit denen die Taubengemeinschaft konfrontiert ist, wirksam anzugehen. Trotz ihrer Fähigkeit, Artikel von akademischen Autor*innen, die an der Schnupperwoche teilnahmen, zu lesen, betonte sie die Wichtigkeit, den Unterricht direkt in Gebärdensprache zu erhalten, ohne die Vermittlung von Dolmetschenden, um die Konzepte der Deaf Studies tiefer zu verinnerlichen. Darüber hinaus hob sie hervor, wie wichtig es ist, während des Gesprächs mit tauben Kolleg*innen über diese Konzepte zu diskutieren, und betonte die Notwendigkeit solcher Interaktionen für die Stärkung des Selbstbewusstseins durch Deaf Studies.
Förderung von Lernumgebungen für taube Menschen: EDSU’s Einblicke und MADS‘ Vision für eine inklusive Bildung
Die Notwendigkeit einer Lernumgebung unter Gleichgesinnten wurde von Lore Bajerski, der Präsidentin der European Union of Deaf Students (EDSU), zum Ausdruck gebracht, die auf die schwierige Herausforderung hinwies, ein akademisches Studium zu absolvieren, wenn man die einzige taube Person in der Klasse ist.
Sie berichtet von den Schwierigkeiten, in den Augen der hörenden Kommiliton*innen und Lehrer*innen als Objekt der Neugierde wahrgenommen zu werden. Sie wies auch auf die häufige Erfahrung der Einsamkeit unter tauben Studierenden hin, die Schwierigkeiten haben, sich vollständig an intellektuell anregenden Gesprächen mit ihren Mitstudierenden zu beteiligen. Diese Schwierigkeit ergibt sich aus der Notwendigkeit von Dolmetschenden für die direkte Teilnahme und das Knüpfen von Verbindungen in Diskussionen. Darüber hinaus scheint MADS ihr eine Gelegenheit zu bieten, den Weg zu einem Promotionsstudium zu erleichtern.
Eines der Ziele von MADS ist es in der Tat, den Pool an tauben Forscher*innen zu erweitern. Dieses Ziel steht in direktem Zusammenhang mit der Beobachtung der EDSU, dass taube Studierende immer noch erheblichen Hindernissen auf dem Weg zu einem Promotionsstudium begegnen. Lore Bajerski verweist auf den Erfolg der Gallaudet University in den USA, einer Institution, die einzigartig für die Taubengemeinschaft ist und in der alle Kurse in Gebärdensprache unterrichtet werden. Dieses Beispiel unterstreicht die entscheidende Verbindung zwischen akademischem Erfolg für taube Studierende und der Zugänglichkeit ihrer Ausbildung.
In Übereinstimmung mit dieser Beobachtung betont Maartje de Meulder, dass eine wesentliche Voraussetzung für den zukünftigen MADS-Master darin besteht, dass er direkt in Gebärdensprache von den Lehrer*innen unterrichtet wird, ohne Gebärdensprachdolmetschende. Dieser Ansatz würde einer wachsenden Nachfrage nach Deaf Studies-Kursen gerecht werden, die direkt in der natürlichen Sprache der Lernenden unterrichtet werden. Zum Zeitpunkt des Interviews waren die spezifischen Details des Programms und die Bedingungen für seine Umsetzung noch in der Entwicklung.
Stärkung der Taubengemeinschaft: MADS als Weg zu einer inklusiven Wissenschaftspraxis
Im Kontext des allgegenwärtigen Strebens nach Inklusion ist es wichtig, die vielfältigen Auswirkungen auf die Taubenkultur zu verstehen. Während Inklusion traditionell bedeutet, diejenigen, die als „anders“ gelten, in den Mainstream zu integrieren, bedeutet sie für die Taubengemeinschaft oft, mit Isolation in einer überwiegend hörenden Welt zu kämpfen, was die Entwicklung einer positiven tauben Identität behindert. Diese Isolation verdeutlicht den kollektiven Kampf, den taube Menschen führen, um in einer Gesellschaft zu gedeihen, die überwiegend auf gesprochener Sprache basiert.
Inmitten dieser Herausforderungen bieten Initiativen wie MADS jedoch einen möglichen Weg nach vorn. Durch die Schaffung einer Umgebung, in der die Taubenkultur respektiert wird, könnte MADS als Plattform dienen, auf der taube Menschen ihre Identität zurückgewinnen und bedeutungsvolle und stärkende Verbindungen innerhalb ihrer Gemeinschaft aufbauen können. In diesem Kontext geht MADS über eine bloße Bildungsinitiative hinaus; es verkörpert ein kollektives Bestreben, dem Assimilationsdruck zu widerstehen und den einzigartigen Wert der Taubenkultur in einer vielfältigen Gesellschaft zu bekräftigen.
Durch Initiativen wie MADS für taube Arbeiternehmende und Studierende gleichermaßen könnten solche Programme einen Weg zu einer zugänglicheren akademischen Umgebung bieten, die die wahre Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt. Es geht nicht nur um Bildungsbefähigung; es geht darum, die Wissenschaft so zu gestalten, dass sie authentisch die vielfältigen Bedürfnisse aller Lernenden, einschließlich derjenigen aus der Taubengemeinschaft, repräsentiert und berücksichtigt.